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Leseproben aus vier meiner Geschichten

Elenas Traum   

Elena träumt die letzten Fetzen eines ausgiebigen Traums, der sie aufwühlt. Noch ist sie in der Traumwelt, im Fluss des Lebens, gleitet durch die Schöpfung, als wäre sie ein Wesen, das überall hin gelangt, dem kein Hindernis die Reise versperrt, schwebt durch Baumwipfel, gleitet durch Bäche, begegnet Fischen, hüpft über die Triller der Vögel, als wären es für sie gebaute Stufen zum Sein. 

Das Gefühl ist gewaltig, erhebend, tief berührend. Langsam verklingt das im Traum Erlebte wie der Schlussakkord einer Symphonie.

So wie in einer Symphonie, die im tiefsten Innern eines Komponisten entstanden ist, in der jeder Ton, jede Pause, jedes Crescendo, jeder Akkord seine Richtigkeit und Wichtigkeit hat und durch das Zusammenspiel aller Elemente ein perfektes Ganzes entsteht, so erlebt Elena ihren Traum als Meisterwerk.

Langsam gleitet sie in den Tag. Die Sinne und die Wahrnehmungen verschieben sich zunehmend dem anbrechenden Morgen entgegen, die Erinnerungen und die Gefühle sind noch stark mit der Traumwelt verbunden. Ein Pendeln, hin und her, vom Traum zum Einfliessen in den physischen Körper. Das Öffnen der Augen bestätigt ihr, dass sie sich in ihrem Schlafraum befindet, vertraut, hundertfach erlebt.

Und doch scheint heute etwas anders zu sein. Mit zunehmendem Alltagsbewusstsein realisiert Elena, was sie geträumt hat. Sie sitzt auf der Bettkante, spürt dem Erlebten nach und wird gewahr, dass ihr der Traum in den Alltag folgt.

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Wanda

Die drei Bewerber erstarrten, wohl nicht weniger die anderen Adler.​

In diesem Moment tobte der Wind mit solcher Kraft, dass alles, was nicht fest mit der Erde verbunden war, weggefegt wurde. Teba schaute in die Tiefe und hoffte auf neue Bewerber, die etwas taugten und nicht nur dem hohen Rat gefielen. Aber sein Herz trauerte. Er drehte sich um, dem Sturm trotzend. Sein Weitblick ruhte auf der Gewitterfront, die auf ihn zutrieb. Als er sich wieder umdrehte, waren die Adler seines Stamms alle verschwunden, in ihren Höhlen im Fels Schutz suchend, um sich vor dem Sturm und Tebas Prüfung in Sicherheit zu bringen.
Teba blickte in seiner Enttäuschung zu Boden.

Da entdeckte er den Sperling, der arg zerzaust, aber keck blickend zu ihm hinauf piepste: «Ich möchte es versuchen!»
«Wer bist du?», fragte Teba.


«Wanda!»
«Nein, Wanda, das wäre schade um dich! Du hast Mut. Aber du bist kein Adler. Und nur ein Adler kann den Blitz beissen! Nein, Wanda, das wäre wirklich schade um dich, du müsstest sterben!»
«Das tust du ja auch bald!», entgegnete Wanda unbeirrt.

Die Reise nach Oberfindelbach 

Während John, Melinda und Svetlana sich angeregt unterhalten, ist Friedrich eher der zurückhaltende Zuhörer, da er aus seinem vergangenen Leben wenig beizutragen hat, das von Interesse sein könnte. Kubilay scheint der stille Beobachter zu sein. Seine Augen erinnern ihn an den Ausdruck, den er bei Hilaya gesehen hat. Ist es möglich, dass Menschen, die sich für mehr als den Alltagstratsch interessieren, einen anderen Blick haben?
«Was arbeitest du?», fragt ihn Friedrich, interessiert, was sich hinter diesem geheimisvollen Blick verbirgt.
«Ich arbeite nichts.»
Wieder die bekannte Stille, die dann bei Friedrich eintritt, wenn etwas nicht in sein Verstandes-Konzept passt. Dann sucht sein Gehirn nach Anhaltspunkten, um sich an Bekanntem festzuhalten. Dies gibt ihm Sicherheit, ohne die er sich wie schwerelos fühlt, im Raum schwebend, umhergetrieben, auf der Suche nach haltgebenden Strukturen.
«Wie ist es möglich ohne Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen?»
Jetzt hören auch die anderen Drei plötzlich interessiert zu. Kubilay blickt in die Ferne, als habe er die Frage nicht gehört, während die Mitreisenden gespannt auf eine Antwort warten.

«Wenn du arbeitest, lebst du nicht. Wenn du lebst, arbeitest du nicht.»

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Das Märchen der Unendlichkeit 

«Mauro, könnte es sein, dass unser Leben, unsere Gedanken, schon vor langer Zeit, von Märchenerzählern, in langen Nächten am Feuer, erzählt worden sind? Könnte es sein, dass die gut gelebte Zeit rückwärtsläuft oder einfach immer präsent ist? Dass gestern heute ist und heute erst sein wird?»
«Vielleicht, aber was nützt mir dieser Gedanke, wenn ich morgen sterbe!? Morgen um die gleiche Zeit. Noch 24 Stunden zu leben! Wie würden wir diese letzte Zeit gemeinsam verbringen, Maura?»
Und wieder wurde die Philosophie auf die Erde zurückgeholt,ins Jetzt. Mauro zog mit dieser Frage der Philosophie die Schlinge enger um den Hals.
«Ich würde mit dir über die Vergänglichkeit sprechen, bewusst, von ganzem Herzen!»
«Das heisst, du würdest tun, was wir sowieso schon tun?», zweifelte Mauro.
«Ja, lass uns mit dem Herzen denken, die gleichen Inhalte wie jetzt.»
«Also gar nichts Besonderes, kein Abschlussfest, kein Rückblick, nichts?»
«Nein, aber ich nehme dich so wahr, dass die Ewigkeit mich fragen wird: Darf ich dabei sein und von euch lernen? Wir werden beide Banales tun, aber so, dass sich die Zeit vor uns verneigt und uns gestattet, sie einen Tag in ihrem Leben zu begleiten.»
«Wie lange dauert ein Tag in der Ewigkeit?» fragte sich Mauro halblaut.
«Das weiss ich nicht», gab Maura zur Antwort. «Aber sicher so lange, dass die Menschen in allen Zeiten von unseren letzten 24 Stunden erzählen würden, als wäre es das Märchen der Unendlichkeit!»

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